„Wieso war ich anders?“ Diese Eingangsfrage der iranischenMenschenrechtsaktivistin Shadi Amin übermittelt in einem Satz Nöte und Ängste queerer* Kinder und Jugendlicher. Und verdeutlicht gleichzeitig die Notwendigkeit zur Diskussion über sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung von minderjährigen Menschen – und zwar nicht nur im Globalen Süden und Osten. Einen Meilenstein hierzu legte der siebte Fachtag Regenbogenphilanthropie der Dreilinden gGmbH in Kooperation mit SOS-Kinderdörfer weltweit.
Shadi Amin lebt heute in Frankfurt. Sie berichtete über ihre Kindheit im Iran. Wie oft sie Ärger bekam, weil sie nur Hosen anziehen wollte. Doch ohne den verhassten Rock der Schuluniform durfte sie als Mädchen nicht am Unterricht teilnehmen. Wie sie beschimpft wurde. Wie alleine sie sich fühlte mit ihrem „Anderssein“. Wie sie sich niemandem anvertrauen konnte, als sie sich das erste Mal in ein Mädchen verliebte. Sie berichtete auch über Zwangsoperationen und Elektroschocktherapien an Minderjährigen. „Meine Eltern wollten mich nicht quälen, sie waren überzeugt, dass Homosexualität eine Krankheit ist, die man behandeln muss“, erzählte ihr eine Jugendliche in einem späteren Gespräch.
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Da LSBTIQ*-Menschen von der Gesellschaft hauptsächlich über ihre Sexualität definiert werden, herrscht oft die Auffassung, dass nur Erwachsene oder zumindest Post-Pubertäre queer sein können. Kinder und Jugendliche, die nicht der geschlechtlichen und sexuellen Norm entsprechen, werden so nicht-existent gemacht und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Um bis ins Erwachsenenalter zu überleben, müssen sie ihr Selbst entweder verstecken oder mit massiver Ablehnung bis hin zur Gewalt leben.
Dabei verpflichte die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 alle Staaten der Welt, Kinder vor Diskriminierung zu schützen, klärte der bosnische Jurist Muhamed Mešić aus Wien auf. Durch das völkerrechtliche Mittel der Vorbehalte bestünden die Kinderrechte jedoch zum großen Teil nur auf Papier. „Kinderrechte sind Menschenrechte“, stellte Mešić fest, „Menschenrechte beruhen auf der zentralen Idee, dass jeder Mensch einzigartig ist und über seine Einzigartigkeit frei und selbstbestimmt entscheiden darf – und zwar unabhängig von seinem Alter.“ Insofern hätten Kinder selbstverständlich das Recht auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung. Über das jeweils geltende Strafrecht würden einzelne Staaten dieses Recht allerdings stark einschränken, insbesondere im Globalen Süden und Osten: Das zeige sich in einem höheren gesetzlichen Schutzalter als bei heterosexuellen Verhältnissen oder mit Gesetzen zum „Schutz vor homosexueller Propaganda“, wie es sie in Russland, Nigeria und Algerien gibt.
„LSBTIQ-Kinder und -Jugendliche sind laut einer Studie aus den USA in Pflegefamilien überrepräsentiert“, berichtete Coenraad de Beer von der Organisation SOS-Kinderdorf International. Wie diese Kinder und Jugendlichen unterstützt werden könnten, diskutierte er mit den Jugendaktivist_innen Alfred B. und Jelena Čelebić. B. war selbst in einem SOS-Kinderdorf im Globalen Osten aufgewachsen. Čelebić trainiert in ihrem serbischen Frauenfußballverein mit lesbischen Mädchen und Transgender Kindern. Neben der Aufklärung der Minderjährigen fehle es auch an Ansprechpartner_innen. Umso wichtiger seien Beratungszentren, welche zudem einen geschützen Raum für Kinder und Jugendliche bieten. Online-Angebote sollten diese ergänzen, denn „nicht alle trauen sich, so ein Beratungszentrum zu betreten“, gab B. zu bedenken. SOS könne sich zwar nicht über die Gesetzgebung der einzelnen Länder hinwegsetzen, müsse aber sowohl intern als auch extern Öffentlichkeit schaffen, als Vorreiter agieren und zwischen Institutionen und örtlichen LSBTIQ-Organisationen vermitteln. Dass die Existenz von queeren Kindern und Jugendlichen so ein großes gesellschaftliches Tabu darstelle, mache eine Diskussion zu dem Thema einerseits besonders schwierig und andererseits besonders wichtig.
Alle Teilnehmenden erörterten anschließend in Kleingruppen weitere konkrete Maßnahmen. Mehr Forschung zum Thema LSBTIQ-Kinder und -Jugendliche und ihre spezifischen Schwierigkeiten, gerade auch in Entwicklungsländern, wurde gefordert; ebenso wie eine spezielle Schulung des Personals in der alternativen Kinderbetreuung. Letztendlich läge das Problem aber in der Gesellschaft. Ise Bosch von Dreilinden appellierte daher an die Anwesenden: „Das Thema der Heteronormativität und der Geschlechter-Diversität kann unsere Augen und Herzen öffnen. Gerade Kinder lieben es, wenn sich der Horizont erweitert. Lasst uns LSBTIQ-Themen nicht immer nur von der Problemseite betrachten. Lasst uns diese Themen positiv besetzen.“
Dreilinden und SOS beschlossen, dass diese Veranstaltung nur der Anfang gewesen sein soll. Der nächste Fachtag Regenbogenphilanthropie wird das Thema fortführen. Bis dahin werden Koalitionen ausgebaut und Dreilinden wird ein Arbeitspapier als Diskussionsgrundlage publizieren. Das Eingangsstatement des Fachtags 2015 von Angelika Schwaiger, SOS-Kinderdörfer weltweit, stellte somit auch eine Aufforderung für 2016 dar – nämlich einen möglichst breiten Zusammenschluss von Stiftungen, NGOs und Betreuungseinrichtungen zu formen: „Wir berufen uns auf die Kinderrechte und respektieren die Individualität jedes einzelnen Kindes. Wir schützen die Kinder vor Diskriminierung, respektieren ihre Privatsphäre und kümmern uns um ihre Bedürfnisse. Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität sind integraler Bestandteil ihres Wesens und dürfen nie ein Grund für Diskriminierung sein, nirgendwo!“
*Queer ist ein Sammelbegriff für Menschen, die abweiched von der Heteronormativität leben und wird in diesem Text als Synonym für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*-, Inter*- und queer lebende Menschen (LSBTIQ) verwendet.
Begrüßung Ise Bosch
Begrüßung Angelika Schwaiger
Input Shadi Amin
Input Muhamed Mesic